der spezielle und der gewöhnliche ort

Ein Raum ist jenes gleichförmige, an keiner Stelle ausgezeichnete, nach jeder Richtung hin gleichwertige, sinnlich nicht wahrnehmbare Auseinander(1). Der Raum ist leer (-geräumt), demnach ohne spezielle Eigenschaften.
Der Ort ist demgegenüber kein homogener und leerer Raum, sondern einer, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der, nach Foucault(2), nicht gänzlich entsakralisiert ist und vielleicht auch von Phantasmen bevölkert wird(3).
Damit entsteht ein Ort erst durch die Beziehung des Menschen zu einem Raum, die Qualitäten stehen in Bezug auf Dinge des menschlichen Lebens.
Spezielle Orte sind eigentliche Ereignisse im Raum, sie besitzen herausragende Qualitäten sinnlicher Art, meist visueller Natur, sie liefern ein Spektakel (lat. spectare=schauen). Damit wird noch nichts über die ästhetische oder städtebauliche Qualität solcher Orte ausgesagt, spektakuläre Orte müssen nicht "schön" sein. Spektakuläre Orte zielen meist auf das Auge, die anderen Sinne werden dabei übertönt und treten in den Hintergrund. Spezielle Orte sind in ihrem Umfeld zu lesen, der Kontext zum umliegenden Ort macht einen Teil ihrer Qualitäten aus.
Gewöhnliche Orte wären demgegenüber Orte, bei denen alle Sinne gleichermassen angesprochen sind, die keine Extreme aufweisen. Sie sind häufiger anzutreffen, doch geht man unbewusster daran vorbei, sie drängen sich sinnlich nicht auf und sie sind kontrastarm. Die meisten Menschen nehmen spezielle Orte als spannender wahr, gewöhnliche Orte übersieht man.
Die Geschichtlichkeit eines Ortes steht in Beziehung zur Geschichte der Menschen an diesem Ort. Der individuelle Bezug eines Menschen zu einem Ort kann jeden Ort zu einem für den einzelnen wichtigen und unersetzbaren und somit speziellen Ort machen. Das Spezielle entsteht hier in der Beziehung des Menschen zum Ort.


die geschichte des lettentunnel

Erbaut 1891-94. Die ersten rund hundert Meter vom Letten an, im mergeligen Moränenschotter, wurden im Tagbau errichtet, der Rest im Sprengvortrieb durch die Molasse. Die Auskleidung besteht aus roh behauenen Kalksteinen.
Vom Hauptbahnhof ausgehend verlief das Lettengleis über die lange Vorbahnhofbrücke und über die Limmat zum ehemaligen Bahnhof Letten und weiter durch den Tunnel zum Stadelhofen und Tiefenbrunnen ans rechte Zürichseeufer. Um ca. 1925 wurde die Linie elektrifiziert, die Spuren der früheren Dampfbahnen sind noch heute an der Tunneldecke sichtbar. Seit der Eröffnung des neuen Tunnel vom Hauptbahnhof direkt zum Stadelhofen ist der Lettentunnel ausser Betrieb. Während den Jahren der Drogenszene am Platzspitz und am Letten übernachteten immer wieder Süchtige im Tunnel. Vereinzelt findet man noch Spritzen.
1995 wurden alle Gleise, die Oberleitungen und Installationen entfernt und das Gleisbett mit einer befahrbaren Chaussierung überschüttet. Der Tunnel ist immer noch im Besitz der SBB, das Land vor dem Tunnel wurde der Stadt Zürich abgetreten.
Heute ist der obere Letten ein Szenetreff anderer Art, die Erholungsnutzung hat Einzug gehalten. Das alte Schotterbett der Gleise und die Natursteinwand ausserhalb des Tunnels sind eine städtische Ökonische für trockenheitsliebende Pflanzen und Tiere.


die SBB

Die Schweizerischen Bundesbahnen AG brauchen den Tunnel nicht mehr und würden ihn gerne aus der Unterhaltsrechnung heraus haben. Er ist ein "Abfallprodukt" der neuen und schnelleren S-Bahn-Verbindung vom Hauptbahnhof zum Stadelhofen. Wie bei Abfall so üblich, wird man ihn heute nicht mehr einfach los, sondern muss eine Entsorgungsgebühr bezahlen. Diese heisst bei den SBB Desinvestition: durch die Investition in die Auffüllung des Tunnels muss dieser in Zukunft nicht mehr unterhalten werden. Der ökonomischen Logik folgend erscheint es als nicht sinnvoll, den Tunnel als geschichtliches Zeugnis zu erhalten.


die stadt

Soll man diesem Ort, den eigentlich niemand kannte, eine Träne nachweinen? Verschiedene Gruppen in der Stadt Zürich haben versucht, den Lettentunnel einer neuen Nutzung zuzuführen. Diskutiert wurde eine Verwendung als Tiefgaragenzufahrt zum Parkhaus am Central, ein Autobahnzubringer zum Milchbucktunnel, eine Champignonzucht und ein Bocciaclub. Alle Vorschläge erwiesen sich aber als nicht machbar. So hat die Stadt heute nichts dagegen, wenn die SBB den Tunnel aufschütten und das Tor verschliessen.


der lettentunnel als raum

Der Tunnel ist zwei Kilometer lang und führt dem rechten Limmatufer entlang vom ehemaligen Lettenbahnhof zum Stadelhofen. Das Volumen beträgt rund 50‘000 m3. Er hat folgenden Querschnitt:




der lettentunnel als ort

Der Lettentunnel ist unzweifelhaft ein spezieller Ort in Zürich. Sehr speziell wird er, da er in naher Zukunft als Raum verschwindet, das reizt uns zu einer letzten Intervention vor dem Ende. Seine Wirkung ist kraftvoll, stark, man kann sich ihr kaum entziehen. Das macht die Auseinandersetzung mit dem Ort zum Risiko. Kann man hier noch etwas dazutun?
Verschiedene Lesarten des Ortes Lettentunnel sind möglich:



(1) Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 13: Aus der Erfahrung des Denkens. Die Kunst und der Raum. Frankfurt 1985
(2) Michel Foucault: Andere Räume. In: Barck, Gente (o.a). Aisthesis. Leipzig 1990
(3) Vgl. auch: Peter Arlt: Was ist ein Ort? In: Kunstforum International: Künstler als Gärtner, Bd. 145, 1999